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Ist Kratzen wirklich so schlimm?

Ist Kratzen wirklich so schlimm? – Ein Blick auf Ursachen, Folgen und Therapien

Kratzen ist ein natürliches Verhalten, das tief in unserer Evolution verankert ist. Ursprünglich diente es als Schutzmechanismus, um potenziell gefährliche Reize wie Parasiten oder Fremdkörper von der Haut zu entfernen. Auch heute verspüren viele Menschen beim Kratzen zunächst ein Gefühl der Erleichterung – Juckreiz lässt nach, Spannungen lösen sich, und nicht selten stellt sich sogar Freude oder Euphorie ein.

Doch dieses kurzfristige Wohlgefühl hat seinen Preis. Schon kurz nach dem Kratzen treten häufig negative Emotionen auf, etwa Schuldgefühle, Wut oder Frustration – insbesondere bei Menschen mit chronischen Hauterkrankungen wie Neurodermitis oder Prurigo, bei denen Kratzen den Heilungsverlauf zurückwerfen kann. Viele Patient*innen berichten von einem inneren Druck, dem Drang zum Kratzen nicht nachgeben zu dürfen – was paradoxerweise das Jucken weiter verstärkt.

Neurowissenschaftlich betrachtet sind Juckreizempfinden und Kratzen im Gehirn eng miteinander verknüpft. Das Juckreizsignal wird über Hautnerven zum Rückenmark und anschließend von dort zum Gehirn weitergeleitet, wo es zunächst wahrgenommen wird. Gleichzeitig werden Gehirnareale aktiviert, die für die Planung und Einleitung von Bewegungen wichtig sind. Somit wird die Kratzantwort eingeleitet. Nach dem Kratzen werden im Gehirn Areale aktiviert, die dafür sorgen, dass weniger Angst und mehr Belohnung empfunden wird. Wenn Jucken chronisch wird, also länger als 6 Wochen anhält, kommt es zu einer dysfunktionalen Beziehung von Jucken und Kratzen. Chronisches Jucken führt zu einer Überaktivierung motorischer Gehirnareale und Kratzen zu einer Überaktivierung von Belohnungsarealen im Gehirn. Kratzen kann also „süchtig“ machen. 

Aus lerntheoretischer Sicht kann Kratzen zudem „antrainiert“ werden. Direkt nach dem Kratzen wird das Jucken weniger und es folgt ein Belohnungsgefühl. Dies wird als sog. „positive Verstärkung“ bezeichnet. Zudem wird etwas Negatives, das Jucken, kurzzeitig weniger, was man als „negative Verstärkung“ bezeichnet. Beide Mechanismen tragen dazu bei, dass das Verhalten häufiger auftritt und sich ein sog. „automatisiertes Kratzverhalten“ entwickeln kann. Manche Patienten berichten daher, dass auch nach einer erfolgreichen Therapie des Juckens noch gekratzt wird – nicht weil die Haut juckt, sondern weil das Kratzen zur Gewohnheit geworden ist. 

Weiterhin führt das Kratzen dazu, dass die Haut und die Hautnerven geschädigt werden. Es kommt zur Schädigung von Hautschutzbarriere und Hautnerven. Die Empfindlichkeit der Nerven nimmt zu. Hieraus kann folgen, dass ein Reiz, der bei jedem Menschen Juckreiz auslöst, von Patienten mit chronischem Jucken als stärker empfunden wird (Hyperknesis). Zudem können Reize, die eigentlich kein Jucken auslösen (z.B. eine sanfte Berührung) bei Patienten mit chronischem Jucken schwere Juckreizattacken auslösen, was man als Alloknesis bezeichnet. 

Kratzen führt weiterhin zu einer Zunahme von Entzündungsreaktionen in der Haut. Durch die geschädigte Hautbarriere können Schadstoffe, Allergene und Keime leichte in die Haut eindringen, wodurch die Entzündung verstärkt werden kann; zudem können Kontaktallergien entstehen. Daher ist es wichtig, keine Cremes auf entzündeter Haut zu verwenden, die z.B. Duftstoffe, Konservierungsstoffe und Farbstoffe enthalten. 

Kratzen kann zur Entstehung von blutigen Kratzläsionen führen, die krustig abheilen und zu Narben werden können. Kratzen kann dazu beitragen, dass Hauterkrankungen sich weiter verschlimmern (z.B. Ekzeme bei der Neurodermitis oder entzündliche Knoten und Knötchen bei der chronischen Prurigo). Kratzen ist zudem eine psychische Belastung, da nach dem Kratzen nicht nur die Haut schmerzt, sondern auch Selbstvorwürfe und Vorwürfe aus dem Umfeld hinzukommen. Häufig wird man ermahnt, nicht kratzen zu dürfen, was den Kratzdruck bei Betroffenen weiter erhöht. Das Kratzen selbst und die sichtbaren Kratzläsionen sind zudem für viele Patienten mit Scham und Stigmatisierung verbunden; man macht sich Sorgen, dass die Mitmenschen denken, man würde unter einer ansteckenden Erkrankung leiden. Daher ziehen sich viele Patienten zurück, entwickeln Schlafstörungen, Angst und Depressionen.  

Wichtig: Kratzen ist nicht „verboten“, sondern eine ganz normale Reaktion auf Jucken. Der Schlüssel liegt darin, das zugrunde liegende Jucken effektiv zu behandeln. Die moderne Dermatologie bietet dafür eine Vielzahl bewährter und neuer Möglichkeiten.

Therapiestrategien umfassen unter anderem:

  • Konsequente Hautpflege mit rückfettenden, reizarmen Produkten ohne Duft- oder Konservierungsstoffe
  • Lokaltherapien (z. B. Cortisoncremes, Calcineurininhibitoren)
  • Systemische Therapien (z. B. Tabletten- oder Spritzentherapien)
  • Begleitende Maßnahmen wie Verhaltenstherapie, Entspannungsverfahren oder Physiotherapie

Fazit: Kratzen ist Ausdruck eines realen Leidensdrucks – keine Willensschwäche. Es ist eine nachvollziehbare Reaktion auf ein starkes inneres Signal. Die wichtigste Botschaft des Vortrags lautet daher: Machen Sie sich keine Vorwürfe. Und sagen Sie Ihren Mitmenschen, dass Sprüche wie „Hör auf zu Kratzen“ oder „Du sollst nicht kratzen“ tabu sind. Ziel sollte nicht sein, das Kratzen zu verbieten, sondern den Juckreiz wirksam zu behandeln. Gelingt das, wird auch das Kratzen seltener – und kann langfristig der Vergangenheit angehören.

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